Jeder kennt sie: Die gängigen Ernährungsempfehlungen. Mehr Obst und Gemüse, weniger Fleisch. Auf die Zufuhr von Kohlenhydraten achten und wenn Kohlenhydrate, dann vor allem Vollkornprodukte. So wenig Zucker wie möglich und immer ausreichend trinken. Am besten keinen Alkohol und keine Limonaden, sondern viel frisches Wasser und Tee. Ausgehend von diesen Prinzipien haben sich allerdings in den letzten zehn bis 20 Jahren viele neue Ernährungsempfehlungen gebildet. Von Trennkost über Low-Carb oder Paleo bis hin zur fettarmen, veganen Ernährung gibt es heute die unterschiedlichsten Richtungen. Man hat das Gefühl, dass es in den Ernährungswissenschaften immer wieder neue Trends gibt, die allerdings nur kurz Bestand haben. In Summe mögen die oben genannten Empfehlungen zwar stimmen, aber es wird immer deutlicher, dass eine gesunde Ernährung sehr individuell ist und für jeden etwas anderes bedeutet. Denn jeder Körper reagiert anders auf Lebensmittel. Jeder hat wahrscheinlich Beispiele dafür im Bekanntenkreis. Während der eine riesige Mengen essen kann, ohne zuzunehmen, muss ein anderer nur an Essen denken und den Gürtel bereits weiter schnallen. Ernährung ist etwas sehr individuelles und immer mehr Wissenschaftler nehmen sich dieser Frage an. Dazu gehören zum Beispiel der Genetiker Tim Spector vom King´s College in London, die israelischen Forscher Eran Segal und Eran Elinav, sowie Wissenschaftler vom National Institutes of Health (NIH) in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das relativ junge Forschungsfeld nennt sich Präzisionsernährung und will herausfinden, warum Lebensmittel auf Menschen so unterschiedlich wirken. In der Folge möchten die Forscher einen Beitrag dazu leisten, das weltweite Problem von Überernährung, Fettleibigkeit und den Folgeerkrankungen zu lösen.[1]
Der glykämische Index wackelt
Doch, wie kommen Wissenschaftler darauf, dass Lebensmittel so unterschiedlich auf den menschlichen Organismus wirken? Einen Anhaltspunkt gab ein Experiment am israelischen Weizmann Institute of Science.[2] Dort wurde vom Mathematiker Eran Segal und Immunologen Eran Elinav der Zusammenhang zwischen Süßstoff und Adipositas sowie Fettleibigkeit untersucht. Dabei stellten sie fest, dass die Probanden in ihrer Studie ganz unterschiedlich auf die Gabe von Süßstoff reagierten. Während bei einigen Probanden so gut wie keine Reaktion am Blutzucker erkennbar war, gab es bei anderen Probanden immense Anstiege der Blutglucosekonzentration. An dieser Feststellung gibt es zwei interessante Aspekte: Zum einen, dass künstliche Süßstoffe überhaupt auf den Blutzuckerspiegel wirken, da sie kein Zucker enthalten. Zum zweiten, dass die Wirkung so unterschiedlich ist. Zu erstem Thema haben wir hier einen Artikel veröffentlicht, der sich mit der Wirkung des Süßstoffs Sucralose auf den Organismus befasst.
Die Erkenntnis, das Lebensmittel so unterschiedlich auf den Blutzuckerspiegel von Menschen wirken, lässt das Konzept vom glykämischen Index ins Wackeln geraten. Denn dieser Index sagt für bestimmte Lebensmittel aus, wie schnell deren Zucker ins Blut gelangt und in der Folge unser Blutzuckerspiegel ansteigt. Als Elinav und Segal weiter recherchierten stellten sie fest, dass die Studien zur glykämischen Reaktion in der Tat Fehler aufwiesen und es sich vor allem um Durchschnittswerte geringer Studienteilnehmer handelte. Deswegen stellten die beiden Forscher eigene Studien an und fanden am Beispiel von Weißbrot und Vollkornbrot heraus, dass jeder Mensch auf jedes Lebensmittel anders reagiert.
Die Grundlagenstudie zur Präszisionsernährung
Elinav und Segal forschten weiter und untersuchten um die 800 Menschen, um hinter das Konzept der individuellen Ernährung zu kommen. Dabei bezogen sie neben Geschlecht und Alter auch die medizinische Vorgeschichte und den Lebensstil mit ein. Weiterhin wurden der Body-Mass-Index, die Waist-Hip-Ratio (Verhältnis von Taille zu Hüfte) und das Mikrobiom mit einbezogen. Im Studienverlauf mussten die Teilnehmer eine Woche lang ihre Mahlzeiten und ihren Blutzuckerspiegel protokollieren. Auch die Länge des Schlafes und die körperliche Aktivität floss mit ein. Am Ende konnten die Forscher selbst bei ähnlichen Mahlzeiten ganz unterschiedliche Werte messen. In weiteren Forschungen stießen die Forscher darauf, dass das Mikrobiom und die individuellen biologischen Eigenschaften eines Menschen maßgeblich daran beteiligt sind, wie die Ernährung auf den Menschen wirkt.[3]
Bei einer weiteren Studie unterzogen die Forscher Menschen mit Prädiabetes verschiedenen Diäten. Dabei verbesserte die „gute“ Diät die Werte, während eine „schlechte“ Diät die Werte verschlechterte. Das war ganz im Sinne der Hypothese und Erwartung. Allerdings bestand die „gute“ Diät teilweise aus Lebensmittel, die man so nicht erwartet hätte, wie etwa Eiscreme oder Bier. Denn jede Diät war auf den individuellen Teilnehmer und seine Stoffwechselaktivität zugeschnitten.
Die Ergebnisse der PREDICT-1-Studie
Auch die Forscher rund um den britischen Wissenschaftler Spector schlagen in diese Kerbe. Sie veröffentlichten im Juni 2020 die Ergebnisse ihrer PREDICT-1-Studie. Das bedeutet „Personalized Responses to Dietary Composition Trial“. Dabei bekamen 1002 gesunde Menschen zwei Wochen lang die gleiche Ernährung. Ihre Reaktionen, wie Anstieg der Blutglukose und Konzentration der Triglyceride, wurde aufgezeichnet und ergaben bei den Probanden ein völlig unterschiedliches Bild. Interessanterweise reagierten in dieser Studie auch eineiige Zwilling komplett unterschiedlich auf die gleiche Mahlzeit. Das legt nahe, dass nicht nur die Genetik, sondern vor allem andere Faktoren im Spiel sind. Diese könnten das Mikrobiom und unser Schlafverhalten bzw. die zirkadianen Rhythmen sein.
Auch eine Forschergruppe am Imperial College in London kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Dort analysierten die Forscher allerdings Urinproben, nachdem Menschen die gleiche Nahrung gegessen hatten. Auf dieser Basis wollen die Forscher verschiedene Metabotypen entwickeln. Im besten Fall könnte man in Zukunft auf der Basis von Urin-, Blut- oder Stuhlproben individuelle Ernährungsempfehlungen abgeben.
Wie kann ich selbst meine Ernährung personalisieren?
Wer selbst wissen möchte, welche Lebensmittel für ihn gut oder eher schlecht sind, hat einige Möglichkeiten. Wer das Glück hat und zu den zehn Prozent der Menschen gehört, die merken, wenn ihr Blutzuckerspiegel stark fällt oder sinkt, kann dies als Hinweise auf „gute“ oder „schlechte“ Lebensmittel nehmen und seine Ernährung entsprechend anpassen.
Eine etwas verlässlichere Methode ist ein Blutzuckermessgerät. Blutzuckermessgeräte mit einer Basisausstattung an Teststreifen und Stech-Lanzetten sind heute bereits zwischen 30 und 40 Euro in Apotheken erhältlich. Mit einem solchen Messgerät kann jeder mit einem kleinen Piks im Finger selbst die Blutglukosekonzentration messen und sehen, wie er oder sie auf bestimmte Lebensmittel reagiert. Damit kann jeder selbst ein Gefühl dafür bekommen, welche Lebensmittel den Blutzuckerspiegel in die Höhe treiben. Das kann bei einem das vermeintlich gesunden Vollkornbrot sein, während die Erdbeer-Sahne-Torte kaum Spuren am Blutzucker hinterlässt. Bei wieder einem anderen kann Laugengebäck den Blutzucker nach oben schießen lassen und der nächste reagiert auf Schokolade.
In Zukunft soll es auch Apps geben, die sich mit diesem Thema befassen. Dazu gehört die App Zoe, die vom Forscherteam um Tim Spector entwickelt wurde. Die App wird gerade noch entwickelt, soll aber im Jahr 2021 auf den Markt kommen.[4]
[1]Der englische Originalartikel wurde von Graham Lawton im New Scientist unter dem Titel „Why there is no such thing as a healthy diet that works for everyone“ publiziert.
[2]Suez, J., Korem, T., Zeevi, D. et al. Artificial sweeteners induce glucose intolerance by altering the gut microbiota. Nature 514, 181–186 (2014). https://doi.org/10.1038/nature13793
[3] Quelle Grundlagenstudie zur Präzisionsernährung – Personalized Nutrition by Prediction of Glycemic Responses
https://www.cell.com/fulltext/S0092-8674(15)01481-6